Interview mit Atruvia-Experte Oliver Schultz

„Standardisierung heißt nicht von der Stange!“

Die Vielfalt bleibt: Standardisierung macht Prozesse übersichtlich und bringt sie in eine effiziente Form. Aber die Inhalte bleiben trotzdem individuell.

Das Thema Standardisierung ist mit vielen Vorurteilen behaftet. Atruvia-Experte Oliver Schultz räumt mit diesen auf – und erklärt, warum Sie und Ihre Bank von standardisierten Prozessen sowohl fachlich als auch finanziell profitieren können.

Welchen Stellenwert besitzt Standardisierung für die Genossenschaftliche FinanzGruppe? Verlieren Banken damit Ihre Eigenständigkeit? Wie unterstützt Atruvia bei der Implementierung von Lösungen? Diese und weitere Fragen haben wir Oliver Schultz gestellt, Principal Expert im Geschäftsfeld Kundenprojekte und Consulting bei Atruvia. 

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Herr Schultz, bei dem Begriff „Standardisierung“ hat wohl jeder ein mehr oder weniger konkretes Bild im Kopf. Aber was verstehen Sie als Fachmann darunter?

Oliver Schultz: Standardisierung bedeutet für mich Vereinheitlichung und damit enorme Vorteile. Eines der besten Beispiele ist für mich persönlich die Containerschifffahrt. Vor hundert Jahren wurden die Güter noch einzeln, in Netzen oder Kisten verladen und heute sind die Überseecontainer, denke ich, überall bekannt.

Genau bedeutet Standardisierung einen riesigen Fortschritt für das Bankgeschäft, weil sie den Grundstein für die Digitalisierung und – im nächsten Schritt – die Automatisierung legt.

Welche Vorteile bietet Standardisierung gegenüber individuellen Lösungen?

Oliver Schultz: Standards bieten den signifikanten Vorteil, dass einerseits Komplexität reduziert wird und man andererseits wesentlich schneller, einfacher und kostengünstiger darauf aufbauen kann. Standardisierte Module bzw. Pakete lassen sich simpel kombinieren. Ein Beispiel: Nehmen wir an, Sie bauen ein kleines Spielzeughaus – einmal aus Knete und einmal aus Lego-Bausteinen.  In beiden Fällen ist Ihre Kreativität nicht eingeschränkt. Das Knet-Haus können Sie vollkommen frei gestalten. Klare Abgrenzungen oder definierte Schnittstellen und Verbindungspunkte gibt es allerdings nicht. Die potenziellen Varianten, wie das Haus aussehen kann, sind nicht zu berechnen. Ein Nachbau ist schwierig. Wenn Sie Lego-Bausteine benutzen, besteht das Häuschen aus einzelnen, in sich abgeschlossenen Modulen. Auch hier sind Sie in Ihrer Kreativität nicht eingeschränkt. Die einzelnen Lego-Steine lassen sich allerdings leichter kombinieren und bei Bedarf auch austauschen. Sie haben klare Ecken und Kanten. Schnittstellen und Verbindungspunkte sind transparent. Praktischer oder?

Wie lässt sich das auf Banken übertragen?

Oliver Schultz: Für eine Bank beinhalten diese Module, oder auch Pakete, unter anderem Produkte und Prozesse. Diese können wesentlichen leichter und kostengünstiger aktiviert und schnell genutzt werden. Wenn die Module klare Grenzen und Schnittstellen haben, lassen sich diese wesentlich leichter kombinieren, da Abhängigkeiten transparenter sind und Komplexität reduziert wird.

Prozesse wie Kontoeröffnung, Kartenbestellung oder die Anlage eines Online-Zugangs sind immer identisch. Somit können sich Bankmitarbeitenede natürlich viel schneller zurechtfinden. Der Schulungsaufwand sinkt signifikant und die Umsetzungsgeschwindigkeit von neuen Anwendungen und Lösungen nimmt zu.

Ein weiterer Aspekt der Standardisierung sind die signifikanten Kostenvorteile. Auf der einen Seite für die Kunden von Atruvia, für die Banken, auf der anderen Seite für Atruvia. Und das Schöne ist, diese Kostenvorteile können die Banken ihren Kunden wiederum weitergeben im Sinne von geringeren Preisen und günstigeren Konditionen.

Können Sie ein Beispiel für einen Prozess nennen, bei dem sich die Standardisierung besonders lohnt?

Oliver Schultz: Es ist relativ einfach, Prozesse zu standardisieren, wenn es ganz klare, verbindliche Vorgaben gibt – oder auch eindeutige gesetzliche Regelungen. Das ist beispielsweise bei der Erfassung eines Personalausweises der Fall. Hier gibt es heute im Bankarbeitsplatz eine Funktion, um die Legitimationsdaten in einem bestimmten Reiter zu erfassen. Entlang der gesetzlichen Anforderungen ist es relativ simpel, so etwas zu standardisieren.

Standards sind immer sinnvoll, wenn es auch um Vergleichbarkeit geht. Hier kann ich das Beispiel einer Bankbilanz nennen. Jede Bankbilanz ist grundsätzlich gleich aufgebaut, ist inhaltlich aber natürlich unterschiedlich. Stellen sie sich vor, ein Steuerberater, ein Wirtschaftsprüfer würde bei jeder Bank eine andere Bilanz vorfinden, die völlig anders aufgebaut ist – macht keinen Sinn!

Geben die Banken bei so viel Standardisierung nicht ihre Eigenständigkeit auf?

Oliver Schultz: Ich weiß, dass es diese Befürchtung gibt. Kunden haben uns das häufig widergespiegelt: ‚Standard bedeutet ein 100%iger Standard. Der Standard  bietet keinerlei Einflussmöglichkeit und Banken können sich nicht differenzieren.‘ Das ist aber natürlich nicht unser Ziel.

Standardisierung heißt für die Bank keinesfalls: Wir geben unsere Eigenständigkeit auf und es gibt keine Differenzierungsmerkmale mehr. Ein fester Bestandteil des neuen Betriebsmodells ist die geschäftspolitische Neutralität. Es geht uns darum, Standards zu etablieren, wie beispielsweise in der Automobilindustrie. Da ist auch eine standardisierte Produktion vorhanden, aber trotzdem kann ich einzelne Module, beispielsweise den normalen Sitz, den Komfortsitz oder den Sportsitz, in verschiedenen Fahrzeugen kombinieren.

Auf die Banken übertragen heißt das: Es wird weiterhin ein bankspezifisches Customizing geben müssen, beispielsweise für Preise, Konditionen, Produktbezeichnungen, Kreditentscheidungskriterien, zum Beispiel ein Rating, oder eben auch einen gewissen Außenauftritt.

Wie verändert Standardisierung den Arbeitsalltag in der Bank?

Oliver Schultz: Die Veränderung beginnt bereits im internen Bereich: IT, Organisation, Prozessmanagement – dort nimmt der Konfigurations- und Administrationsaufwand ab. Ebenso kann die gesamte Wertschöpfungskette flexibler gestaltet werden, da Sourcing-Lösungen aufgrund der Standardisierung schnell und einfach genutzt werden können.

Da die Komplexität in den Anwendungen dank Standardisierung abnimmt, werden Bankmitarbeitende außerdem viel weniger Ausbildung benötigen. Die Bedienung wird einfacher und intuitiver. Somit können neue Mitarbeitende in Banken schneller als bisher mit der Arbeit beginnen. Zusätzlich sehen wir hier die Chance, ein einheitliches Ausbildungskonzept für Banken zu entwickeln, das sich im Bedarfsfall schnell und einfach bankspezifisch anpassen lässt.

Geht durch die Standardisierung der individuelle Kundenkontakt verloren?

Oliver Schultz: Nein, Standardisierung steht in keinem Fall im Widerspruch zu einer angemessenen Kundenorientierung. Stellen sie sich vor, ein Kunde kann alles, was rechtlich zulässig ist, im Self-Service durchführen und ist nicht mehr bei jedem Vorgang auf Mitarbeitende aus dem Service einer Bank angewiesen. Das macht mich als Kunde freier, da ich zeit- und ortsunabhängig bin. Vorteil für die Bank: Sie kann sich viel mehr Zeit für den Kunden, seine Bedürfnisse und die Beratung nehmen.

Wann ist ein Prozess eigentlich optimal standardisiert? Gibt es so etwas wie den „optimalen Prozess“ überhaupt?

Oliver Schultz: Der optimale Prozess, das ist eine spannende Frage, denn ich glaube, den hat noch niemand in dieser Art und Weise gefunden. Der optimale Prozess unterliegt ganz vielen Einflussfaktoren, beispielsweise der Strategie und der Risikoneigung der Bank, dem Kenntnisstand von Bankmitarbeitenden, der Organisationsstruktur, und, und, und. Also, die Liste ist sehr lange.

Deswegen: „Der optimale Prozess“: Wenn ich 100 Kunden frage, bekomme ich 100 verschiedene Antworten, die ich im Einzeldialog auch alle nachvollziehen kann. Wichtig ist: Wir als Atruvia entscheiden nicht allein „was ist der optimale Prozess?“, sondern binden unsere Kunden aktiv mit ein – beispielsweise im Rahmen des Referenzbankenmodells.

Außerdem ist wichtig zu wissen, dass keiner der Prozesse in Stein gemeißelt sein wird, nach dem Motto: ‚Das haben wir heute mal gemacht, und das machen wir auch in 10 oder 20 Jahren so.‘ Im Sinne einer kontinuierlichen Optimierung werden wir Prozesse immer wieder auf den Prüfstand stellen und, wenn zielführend und notwendig, anpassen.

Was ist Ihrer Meinung nach die größte Hürde, die es bei der Standardisierung zu nehmen gilt?

Oliver Schultz: Die größte Hürde ist ganz klar die Veränderung. Standardisierung heißt, ich muss mich und meine Vorgehensweise verändern. Seien wir ehrlich – und ich schaue da auch auf mich selbst: Wer verändert denn schon gerne sich und seine Vorgehensweise von heute auf morgen? Viele Dinge sind über Jahre gewachsen. Eine angemessene Begleitung der Transformation wird ein elementarer Erfolgsfaktor sein. Und ganz offen: Das wird auch nicht von heute auf morgen mit der Brechstange funktionieren.  Das ist kein Sprint, das ist ein Marathon.

Wie unterstützt Atruvia die Banken bei der Implementierung von standardisierten Lösungen?

Oliver Schultz: Als Atruvia bieten wir den Banken eine Reihe an Unterstützungsmöglichkeiten an, beispielsweise Informationen im VR-Info-Forum oder im Atruvia Hub, mit Leitfäden und Publications oder auch verschiedene Kommunikationsformate, wie die Live-Talks.

Dazu kommen Unterstützungsleistungen aus dem Geschäftsfeld Kundenprojekte und Consulting, beginnend bei der Standortbestimmung – „wo befinde ich mich als Bank gerade, wie ist mein Reifegrad im Rahmen der digitalen Transformation?“ – bis hin zur ganzheitlichen Optimierung oder auch Auslagerung ihrer Prozesse.